Lobbyismus

lobbyismus

Geld für gute Worte

Gehaltszahlungen, Einladungen und sanfter Druck: Unternehmen aller Branchen üben die fürsorgliche Belagerung von Politikern und Beamten – und formulieren die Gesetze mit


Von Götz Hamann



Es ist ein ruhiger Ort, fernab des politischen Geschehens. Die Lampen hängen tief über den groben Holztischen, und die Latte Macchiato heißt auf der Speisekarte noch Milchkaffee.

Nur hier mag einer von weltweit 320000 Mitarbeitern der Volkswagen AG in diesen Tagen über die Lobbyarbeit des Konzerns reden. Er ist keiner vom Band, sondern ein Mann, der weiß, wie die »Abteilung Regierungsbeziehungen« bei VW arbeitet.

Damit er selbst ruhig bleibt, malträtiert er ein Stück Aluminiumpapier. Er faltet es auf. Und zu. Und auf. Und längs. Und quer. Dieser Mann leidet unter der Affäre. Seinen Namen verschweigt er lieber, denn der Konzern mauert und gibt Informationen nur in arg verdünnter Form heraus, seit die ersten Gerüchte um Zahlungen an Landtags- und Bundestagsabgeordnete kursieren.

Die Affäre schade der eigentlichen, der wahren politischen Arbeit, sagt der VW-Mann. Betriebsräte wie Hans-Jürgen Uhl (SPD) »muss man nicht bestechen, damit sie die Interessen von VW im Bundestag vertreten«. Und überhaupt: Großen Einfluss garantiere dem Konzern vor allem seine »Nähe zum Kanzler und die Offenheit von Ministerialbeamten, wenn wir Zahlen liefern, Argumente vortragen oder Vorschläge für Gesetzestexte machen«.

Den Regierungsapparat zu beeinflussen und damit ein ganzes Land zu verändern ist ein stilles Geschäft. Eines, bei dem die Beteiligten versuchen, unter der Wahrnehmungsschwelle einer breiten Öffentlichkeit zu bleiben. Doch seit drei Bundestagsabgeordnete – Hermann-Josef Arentz, Laurenz Meyer (beide CDU) und Jann-Peter Janssen (SPD) – zurücktreten mussten, weil sie Geld vom Energiekonzern RWE oder von VW bekommen hatten, hören die Fragen nicht auf: Wen finanziert die Wirtschaft, wen schmiert sie? Wie beeinflusst sie Parlament und Regierung? Wer hört auf sie, weil er will? Wer, weil er muss?

DaimlerChrysler und BASF, Deutsche Bahn und Siemens – alle haben sie Mitarbeiter nach Berlin entsandt, Grundstücke gekauft und üppige Repräsentanzen gebaut oder wenigstens ein paar Zimmerfluchten gemietet. Von dort aus entfalten sie eine Wirkung, die kaum größer wäre, wenn sie mit in der rot-grünen Regierungskoalition säßen.

»Seit Jahren ist festzustellen, dass Politiker die Nähe von Unternehmen geradezu suchen«, sagt Michael Greven, Politikprofessor an der Hamburger Universität und Autor vieler Aufsätze über den Wandel der deutschen Demokratie. »Ursache ist ein stetig steigender Druck, neue Regeln zu schaffen. Mal erzwingt sie eine kleine Interessengruppe, mal erfordert es der technische Fortschritt, dann wieder die zunehmende Globalisierung – und überall wachsen die Haftungsrisiken. Das Wissen, wie man diesem Ansturm widerstehen kann, vermuten Politiker und Ministerialbeamte zusehends bei Unternehmen.«

So kommt keine EU-Richtlinie und kaum ein deutsches Gesetz ohne die Mitwirkung von Lobbyisten zustande. Das gilt für die Chemie-Richtlinie Reach, die ein Zulassungssystem für Tausende von Stoffen regelt, genauso wie für das Gesetz zu erneuerbaren Energien oder die steuerliche Förderung des Dieselrußfilters.

Die Einflussnahme in Berlin beginnt im Regierungsalltag. Dort tragen Lobbyisten ihre Ideen und Argumente als Erstes den Ministerialbeamten vor, weil diese den Entwurf für ein künftiges Gesetz schreiben. »Die Informationsgrundlage, auf der in den Ministerien ein Gesetz entsteht, ist heute stärker von der Wirtschaft oder einzelnen Unternehmen geprägt als vor 30 Jahren«, sagt Bernd Pfaffenbach, der beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium ist und zuvor die Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt leitete. Etwas anderes gelte für den Austausch zwischen Bundeskanzler und Industrie. »Dort hat sich praktisch nichts verändert«, sagt Pfaffenbach. Er muss es wissen, war er doch schon in der Regierungszeit von Helmut Kohl der zentrale Ansprechpartner für die Unternehmen.

Wie nah die Konzerne derweil an den Bundestag herangerückt sind, fällt im Stadtbild erst einmal kaum auf. Oder welcher normale Berlin-Tourist wüsste, dass die alte Prachtstraße Unter den Linden inzwischen viel treffender »Unter den Lobbyisten« hieße? An ihrem einen Ende, am Brandenburger Tor, residiert DaimlerChrysler, dazu die Dresdner Bank, die Allianz und gegenüber der Mineralölkonzern BP. Wenige hundert Meter weiter folgen BMW, E.on, Volkswagen und der Touristikkonzern TUI – bis schließlich am anderen Ende der Straße der Medienkonzern Bertelsmann hinter einer schneeweißen Fassade seinen politischen Geschäften nachgeht.

In den Neben- und Seitenstraßen der Berliner Mitte haben sich die modernen Zünfte, vom Verband der Elektrizitätswirtschaft bis zur Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, eingerichtet. Es sind mehrere hundert. Dazu kommen etwa 40 freischaffende Agenturen, die fallweise angeheuert werden, wenn es gilt, die Interessen eines Unternehmens noch wirkungsvoller durchzusetzen. Und gerne helfen auch die ungefähr 40 Anwaltskanzleien, die sich darauf spezialisiert haben, Gesetzestexte zu formulieren.

Um ins Gespräch zu kommen, lädt ein Politikberater wie Hans-Hermann Tiedje schon mal Journalisten auf ein Mittagessen ins Restaurant Borchardt zu thailändischer Suppe und Wiener Schnitzel.

Microsoft ließ den evangelischen Bischof von Berlin, Wolfgang Huber, mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx im Museum für Kommunikation diskutieren. Hinterher gab es für die Mitarbeiter des Software-Konzerns Gelegenheit genug, mit den ausgesuchten Gästen ein wenig zu plauschen.

Die Bertelsmann AG lädt in ihre Repräsentanz und lässt Besucher auf ausladenden Sofas Platz nehmen, in denen sich selbst Hünen klein vorkämen. So spürt der Gast die ganze Macht der Organisation am eigenen Leib.

Was der anonyme VW-Insider über den Lobbyismus in Berlin nicht erzählt: Natürlich werden in diesem Geschäft nicht bloß Informationen ausgetauscht. Konzerne und Verbände üben sehr wohl Druck auf Politiker aus, wenn sie es können und es nützlich erscheint. Fast nie spielt Geld eine Rolle, fast immer einige hundert oder tausend Arbeitsplätze. Wie viele Jobs in einem Wahlkreis beispielsweise an VW hängen, daran werden Abgeordnete vor wichtigen Entscheidungen schon mal unsanft erinnert. Letztlich ist davor nicht einmal Bundesfinanzminister Hans Eichel gefeit. Er war von 1975 bis 1991 Oberbürgermeister von Kassel und wird von der dortigen SPD auch heute noch als einer der Ihren betrachtet. Insofern weiß Eichel ganz genau, was es bedeutet, dass in der 200000-Einwohner-Stadt Kassel mehr als 15000 Menschen ihr Geld bei VW verdienen.

Als besonders gut organisiert gilt die Pharmalobby – und als besonders dreist. Mal argumentiert sie, eine Reform träfe die Patienten, mal droht sie mit Arbeitsplatzabbau. Als einen ihrer größten Erfolge verbuchen die Arzneimittelhersteller, dass es ihnen mehrfach gelungen ist, eine so genannte Positivliste zu verhindern. Schon der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer wollte sie Ende der neunziger Jahre durchsetzen. Krankenkassen sollten nur noch solche Medikamente bezahlen, deren besonderer Nutzen auch wirklich erwiesen ist. Doch das Vorhaben scheiterte in jener Zeit am SPD-beherrschten Bundesrat und dem Veto der damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, Hans Eichel und Gerhard Schröder. Ein Zufall? In den von ihnen regierten Bundesländern liegen die Zentralen der Bayer AG (NRW), der Merck KGaA und früher der Hoechst AG (Hessen) sowie die deutsche Niederlassung des britischen Konzerns Wellcome (Niedersachsen). Der damalige Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Baldur Wagner, überreichte dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, Horst-Rüdiger Vogel, später öffentlich ein geschreddertes Exemplar der Positivliste in einer Klarsichthülle – als Geburtstagsgeschenk.

In den Jahren 2002 und 2003 startete die jetzige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt einen weiteren Versuch. Von den mehr als 40000 zugelassenen Arzneimitteln sollten die Kassen künftig nur noch die Hälfte akzeptieren. Doch während sich die parteipolitische Rollenverteilung inzwischen geändert hatte, blieb der Einfluss der Pharmakonzerne gleich. Dieses Mal gab Roland Koch für die Unionsvertreter in der Allparteien-Verhandlungsrunde die Parole aus: »Die Liste muss weg.«

Schmidt war der Druck von der Unionsseite indes gar nicht so unrecht: Auch bei ihr hatten schon rund fünfzig SPD-Abgeordnete interveniert, denen wiederum Pharmavertreter mit dem Abbau von Arbeitsplätzen im Wahlkreis gedroht hatten.

Neue Wünsche tragen die Pharmachefs dem Bundeskanzler auch gerne direkt vor. Am kommenden Montag soll es wieder eines der allgemein als »Bordeaux-Runde« bezeichneten Treffen geben.

Ob solche Ereignisse der Demokratie schaden, dafür sei dreierlei entscheidend, sagt Politikprofessor Michael Greven: »Erstens muss die Entscheidungsverantwortung weiter eindeutig bei den Politikern liegen.« Natürlich sei ein Abgeordneter den Unternehmen in seinem Wahlkreis verpflichtet, aber zweitens »muss es auch mit wenig Ressourcen gelingen können, sich Gehör zu verschaffen. Zumindest für den Berliner Regierungsalltag habe ich da meine Zweifel. Da ist die Organisationsmacht der Konzerne und Verbände doch ziemlich überwältigend.« Und drittens sei Lobbying nur akzeptabel, wenn es »absolut transparent zugeht«.

Das Miteinander von Politik und Wirtschaft hat Tradition, vor allem an der Spitze. Heute geht VW-Chef Bernd Pischetsrieder beim Bundeskanzler ein und aus. Doch er ist wahrlich nicht der erste Manager, der dieses Privileg genießt: Der erste in der Bundesrepublik hieß Hermann Josef Abs. Für die fünfziger Jahre verzeichnet die Besucherkartei des Kanzleramts viele Dutzend Besuche des Bankiers und späteren Vorstandschefs der Deutschen Bank bei Konrad Adenauer. Seither pflegte jeder Bundeskanzler seine Vorlieben, und hätte Edmund Stoiber vor zwei Jahren die Wahl gewonnen, dann besäße wohl nicht VW, sondern BMW die besten Verbindungen nach Berlin.

Zwischen Gerhard Schröder und dem VW-Vorstand herrscht gleichwohl eine besonders tiefe Verbundenheit, eine, die über das übliche Maß hinausgeht. Vor allem mit dem früheren Vorstandschef Ferdinand Piëch, mit dem er sich unter anderem beim World Economic Forum in Davos zeigte, teilt der SPD-Politiker die Erkenntnis: Das Wohl des anderen liegt im eigenen Interesse.

Begonnen hat es in der Zeit, als Gerhard Schröder Ministerpräsident von Niedersachen war. Der VW-Konzern bezahlt in diesem Bundesland nicht nur seine Steuern, weil die Zentrale in Wolfsburg liegt, sondern er beschäftigt – von der Leine bis zur Nordsee – auch etwa 80000 Menschen, ganz zu schweigen von all den Bäckern, Fleischern und Gemüsehändlern, bei denen VW-Mitarbeiter einkaufen. Solange es dem Unternehmen gut geht, kann es dem Land nicht wirklich schlecht gehen, lautet die von Ministerpräsident zu Ministerpräsident überlieferte Weisheit.

Umgekehrt profitiert der Konzernvorstand immens vom Land. Ausgangspunkt ist ein altes Gesetz, dass den Konzern vor einer feindlichen Übernahme schützt: das so genannte VW-Gesetz aus dem Jahr 1960. Es begrenzt den Einfluss eines jeden Aktionärs auf maximal 20 Prozent der Stimmrechte. Mit all seiner politischen Macht hat Schröder dieses Gesetz gegen Angriffe aus der EU-Kommission verteidigt. In Brüssel hält man es seit langem für wettbewerbswidrig, doch solange es besteht, kann der VW-Vorstand ohne große Sorge seiner Arbeit nachgehen.

Noch größer wird der Schutzwall dadurch, dass Niedersachsen mit rund 18 Prozent größter Einzelaktionär von VW ist. Gegen die Stimme des Ministerpräsidenten, der auch im Aufsichtsrat des Konzerns sitzt, geht nichts.

Und als Gerhard Schröder von Hannover nach Berlin wechselte, konnte er sich weiter auf den VW-Vorstand verlassen. Mehr als alle anderen DAX-Konzerne kämpft VW darum, hierzulande Industrie-Arbeitsplätze zu erhalten. Wenn die Bundesregierung etwa über die Zukunft der Arbeit debattiert, zeigt VW mit seinem Modell »5000 mal 5000« einen Weg. Der Familienvan Touran wird zwar zu Bedingungen hergestellt, die schlechter sind als die des VW-Tarifvertrags. Dafür nahm der Konzern aber mehrere hundert Langzeitarbeitslose auf und bildete sie aus. Als der Kanzler schließlich einen Umbau des Sozialstaats versuchte, fragte er nicht einen Strategen aus seiner Partei, sondern den VW-Personalvorstand Peter Hartz, dessen Name inzwischen zum Synonym für die vielleicht größte Reform in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg wurde.

Alles beruht auf Geben und Nehmen. Und wie Konzerne versuchen zu nehmen, ist vielleicht am eindrucksvollsten an dem Versuch der Autoindustrie zu erkennen, die Einführung des Rußfilters für Diesel-Pkw und dessen steuerliche Förderung zu verhindern. Es sieht zunächst wie eine banale, technische Kleinigkeit aus, ist aber weitaus mehr: Viele hundertausend VW, Audi- und DaimlerChrysler-Modelle werden mit Dieselmotor verkauft. Deshalb stand für die Hersteller bei dieser Frage ein Milliardenbetrag auf dem Spiel. Und gerade weil es um so viel ging, ließ dieser Fall alle Facetten des Lobbyismus an die Oberfläche treten.

Maßgeblich daran beteiligt war VW, was auch mit dem politischen Vorarbeiter des Konzerns zu tun hat – Reinhold Kopp. Kopp leitet die Abteilung Regierungsbeziehungen von VW und kam auf Empfehlung von Peter Hartz 1998 auf diesen Posten. Jahre früher war er Chef der Staatskanzlei und SPD-Wirtschaftsminister im Saarland unter Oskar Lafontaine, daher kannte er die SPD in- und auswendig. So verwundert es nicht, dass Kopp in Berlin innerhalb von kurzer Zeit als einflussreich galt und als jemand, der sehr hartnäckig sein konnte, wenn es galt, für ein Konzerninteresse zu werben. »Er ließ sich durch nichts abringen. Hat sich nie bewegt. Ihn für Umweltziele zu gewinnen war ein vergeblicher Versuch«, erinnert sich Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe an seine Auseinandersetzungen mit Kopp um den Rußpartikelfilter.

Vorausgegangen war eine strategische Entscheidung des Konzerns am Ende der neunziger Jahre. Statt Ruß herauszufiltern, wollte VW einen rußarmen Motor entwickeln. Doch das brauchte Jahre, während deren der französische Automobilhersteller Peugeot zumindest ankündigte, alle seine Modelle schnell und serienmäßig mit einem Filter auszustatten.

Gleichzeitig hatte sich VW mit anderen Herstellern zusammengetan, um sich zu wehren. Vor allem ging es um eine Idee von Renault, aufgenommen von Bundesumweltminister Jürgen Trittin, eine EU-Richtlinie zu erwirken, die sehr niedrige Abgaswerte für Diesel-Pkw vorschreiben sollte. Auf absehbare Zeit war dieses Ziel nur mit einem Filter zu erreichen – also mit der technischen Lösung, die deutsche Hersteller ausdrücklich ablehnten. Deshalb schrieb Bernd Gottschalk, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Anfang 2003 einen Brief: »Sehr geehrter Herr Bundeskanzler…« Der Vorschlag des Umweltministers sei »in der vorliegenden Form inakzeptabel«. Damit »würde die Wettbewerbsposition unserer Industrie in einem entscheidenden Bereich geschwächt«.

Staatssekretär Bernd Pfaffenbach sagt, der Dieselrußfilter sei eigentlich ein typischer Fall für das Miteinander von Wirtschaft und Politik. »Wir haben die Entwicklung im Kanzleramt zunächst beobachtet. Sie müssen sehen: Unser Interesse ist es, zu schauen, was der deutschen Volkswirtschaft und der Gesellschaft nutzt.« Im Fall des Rußfilters habe man sich mit den Automobilherstellern zusammengesetzt und sich entschieden: »Unser Entgegenkommen beschränkt sich darauf, zu verhindern, dass Investitionen in rußarme Motoren entwertet werden.« Die Entscheidung für oder gegen den Rußfilter musste in Brüssel fallen.

Brüssel ist »das Mekka des Lobbyismus«, wie der französische Figaro schrieb, und zählt derzeit rund 15000 Interessenvertreter. Allein im Europäischen Parlament ließen sich fast 5000 registrieren, das sind rund fünf Lobbyisten pro Abgeordneten. Zur Belohnung gibt es einen Hausausweis, der die Eingangskontrollen abkürzt. Wo 100 Milliarden Euro zu verteilen sind, vor allem aber wo Regeln und Gesetze für rund 450 Millionen Menschen, für Unternehmer wie Verbraucher, für Anbieter wie Kunden geschrieben werden, müssen Konzerne ihre Interessen vortragen. Etwa 70 Prozent der nationalen Gesetze werden von Brüssel mitgeprägt, ja erzwungen.

Die meisten Interessenvertreter sitzen hinter anonymen Glasfassaden im Quartier Européen, stets in Sichtweite der europäischen Institutionen. Die Avenue Cortenbergh etwa reiht wie an einer Perlenschnur den Energiekonzern E.on (Haus Nummer 60), die US-Handelskammer (Nummer 118) oder den Arbeitgeberverband Unice (Nummer 168) auf. Lauter gerade Hausnummern also, und das ist kein Zufall. Denn die ungerade Nummer 107 vis à vis markiert den Sitz der Generaldirektion Binnenmarkt, in der Europäischen Kommission neben den Wettbewerbshütern und der für die Landwirtschaft zuständigen Generaldirektion die vielleicht mächtigste Institution.

Im Fall des Rußfilters kämpfte eine mächtige Lobby gegen eine andere. Und spätestens im vergangenen Sommer wurde dann klar, warum die deutsche Autoindustrie nicht auf nationale Hilfe vertrauen kann. Während die Hersteller Fiat und Peugeot, gestützt auf ihre Regierungen und angefeuert von den Umweltverbänden, die von ihnen gewünschte EU-Richtlinie fordern, ringt die rot-grüne Koalition noch um eine passende Haltung. Die grüne Bundestagsfraktion entscheidet sich bereits im Mai für niedrige Abgaswerte und mithin für den Rußfilter, doch die SPD zuckt zurück. Hat dazu beigetragen, dass der Parteivorsitzende Franz Müntefering einen Brief von VW-Chef Pischetsrieder bekommt? Vier Wochen ist Ruhe. Dann geht es schnell.

2. Juli: Bernd Pischetsrieder hat gemeinsam mit den Chefs von Fiat, Volvo und Renault einen Termin beim damaligen Präsidenten der EU-Kommission, Romano Prodi. Die Deutschen können sich mit ihren Interessen nur teilweise durchsetzen. Bald darauf wird die EU beschließen, die Abgasnorm Euro5 einzuführen. Immerhin wird die Übergangszeit bis zum Jahr 2010 dauern, erst danach sollen nur noch Diesel-Pkw zugelassen werden, die praktisch keinen Ruß mehr ausstoßen.

7. Juli: Auf einem Autogipfel mit VW-Chef und Bundeskanzler reden die Beteiligten über eine Lösung für den deutschen Markt.

9. Juli: Kurz nach dem Kanzlergipfel beschließt die SPD-Fraktion doch noch, dass sie niedrige Rußwerte für Diesel befürwortet – ein weiterer Rückschlag für VW.

13. Juli: Gerhard Schröder trifft noch einmal auf Vertreter der Automobilindustrie in Stuttgart, die nun ausführen, dass sie vom Jahr 2008 an alle Dieselautos mit Rußfiltern ausrüsten werden. Gibt die Industrie tatsächlich klein bei?

Die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe sagt, er habe Hinweise, dass ein Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung auf der Beamtenebene in Berlin verhindert werde. Die deutschen Automobilhersteller brauchen Zeit, um sich mit Rußfiltern einzudecken – und die Bundesregierung, so scheint es, verschafft sie ihnen mit passivem Widerstand.

So unsichtbar im Alltag ein Rußfilter sein mag: Am Kampf gegen ihn wird sichtbar, wie strategisch Unternehmen versuchen, politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu ändern. Dabei stoßen sie oft auf offene Ohren, vor allem bei Abgeordneten im Europaparlament. Denn in Straßburg fehlt der Wissenschaftliche Dienst nach Vorbild des Bundestags, der den Abgeordneten zumindest solide Basisinformation liefert. Die meisten EU-Abgeordneten sehen in Lobbyisten denn auch nützliche Gesprächspartner. »Ich will meine Freiheit«, sagt Erika Mann, die seit mehr als zehn Jahren für die SPD im Straßburger Parlament sitzt. »Aber ich will auch kluges Lobbying. Wenn die Unternehmen nicht zu mir kommen würden, ginge ich zu ihnen. Da liegt so viel Wissen.«

Viele Abgeordnete in den deutschen Parlamenten könnten diese ehrliche Äußerung unterschreiben. Zu einer lobbyistischen Beziehung gehören immer zwei – einer, der sie betreibt, und einer, der sich darauf einlässt. Bloß wissen die Volksvertreter und Beamten wohl nicht immer, worauf genau sie sich einlassen.

Der Cheflobbyist von VW, Reinhold Kopp, lobte einmal die politische Arbeit. Globale Unternehmen arbeiteten mit sauberer Information und nicht mit den alten Mitteln des Lobbyismus: »Priorität der persönlichen Kontakte, Diskretion und Hinterzimmerkommunikation, Vertretung von gesellschaftskritischen Partikularinteressen, unangemessene Incentives für Politiker«.

Aber sind das nicht genau die Elemente, die heute zutage treten?

Mitarbeit: Tina Hildebrandt

und Joachim Fritz-Vannahme

Quelle:
http://www.zeit.de/2005/04/Lobby

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